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Die spanische Literatur 1898-1918

Gonzalo Sobejano






Ein neuer Spiritualismus

Zwar hatte der literarische Naturalismus in Spanien nur geringe Verbreitung gefunden, was sich nicht nur aus der hemmenden Wirkung der katholischen Tradition, sondern unter anderem auch aus der Tatsache erklärt, daß der krausistische Idealismus unter den liberalen Gebildeten hatte Fuß fassen können; dennoch wurden gegen 1890, genau wie in anderen europäischen Ländern, Ungenügen und Unzufriedenheit an dieser Richtung fühlbar. Bei den aktivsten spanischen Schriftstellern der damaligen Zeit ist eine divergente Haltung festzustellen: Man will nicht ganz auf die methodischen Errungenschaften des Naturalismus zur Erfassung der natürlichen und gesellschaftlichen Phänomene verzichten, aber man hat seine Grenzen erkannt und möchte sie überwinden.

Zwei hauptsächliche Aspekte läßt die neue Haltung erkennen: einen religiösen -die Suche nach der überweltlichen Bestimmung des Menschen, und einen moralischen- das Bestreben, authentische Werte für eine sittliche Lebensführung zu finden. Es sind dies komplementäre Seiten desselben Willens zur Wahrhaftigkeit, der im Widerspruch zum Klima der Restauration (1875-1902) gesehen werden muß -einer Periode, in der man unter dem Deckmantel des politischen Liberalismus versucht, den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Status quo zugunsten des Herrschaftsanspruchs der besitzenden Klassen zu konservieren.

Als Alternative zum Experimentalroman Zolas und seiner Gefolgsleute erscheint am literarischen Horizont der russische Roman. Als Emilia Pardo Bazán diesen im Jahre 1887 dem wißbegierigen Publikum des Madrider Ateneo vorstellte, führte sie aus: «Für mich ist das spiritualistische Element des russischen Romans eines seiner besonderen Verdienste. Daß der Roman nichts Übernatürliches aussagen, daß er kein Instrument religiöser Propaganda sein soll: gut und schön; aber deshalb braucht er noch lange nicht willentlich auf eine simple Chronik physiologischer Vorgänge zurückgeführt zu werden. In uns gibt es unendlich viel Dinge, die der materialistische Determinismus nicht erklären kann; sie aufzuhellen, ist nicht Aufgabe der Kunst, wohl aber ist sie verpflichtet, nicht von ihnen abzusehen»1.

Einige Jahre später wird sich der Kritiker Leopoldo Alas, der zusammen mit E. Pardo Bazán am angelegentlichsten darum gerungen hatte, seinen Lesern den Gewinn klarzumachen, den die spanische Literatur aus den naturalistischen Verfahrensweisen ziehen könne, ganz ähnlicher Formeln bedienen; seine Meditationen über die Ausbreitung des neuen Geistes, über den Dekadentismus, die übersinnlichen Aspirationen, den Bankrott der Wissenschaft und den leidenschaftlichen Idealismus der Moderne werden ihn zu dem Schluß führen, daß der neue Geist zwar nicht beanspruchen könne, entdeckt zu haben, was der Positivismus in agnostischem Dunkel ließ, immerhin aber gelernt zu haben, daß man, «ohne daran zu denken, nicht gut leben kann»2. Diese Überzeugung hatte Alas bereits auf den Weg zur göttlichen Transzendenz zurückgeleitet, und er hatte davon Zeugnis abzulegen begonnen in einigen kritischen Stellungnahmen und in Erzählungen wie Superchería (Betrug) -wo gesagt wird, «das Wunder sei im Ganzen», das heißt, das Mysterium sei nichts anderes als die Wirklichkeit in ihrer Totalität- und Cambio de luz (Wechsel des Lichts) -wo der Protagonist nach seiner Erblindung fühlt, wie die Religiosität wieder von ihm Besitz ergreift, und von dem Gedanken besessen ist, daß, «wenn es einen Gott gibt, alles gut, wenn es keinen Gott gibt, alles schlecht ist»3.

Die Schriftsteller, die um 1890 auf der Höhe ihres Schaffens stehen, finden das Weltverständnis unbefriedigend, zu dessen Aufkommen sie selbst nicht wenig beigetragen hatten: den philosophischen Positivismus, den wissenschaftlichen Determinismus, den literarischen Naturalismus. Das Infragestellen dieser Lehren führt sie dazu, ein anderes Bild der Wirklichkeit in Vorschlag zu bringen oder wiederzuentdecken: Die Fakten haben vor den Ideen zu weichen, die Selbstgenügsamkeit des Menschen vor dem Glauben an jenseitige Mächte, die dokumentarische Beschreibung vor einem intuitiven Erfassen des Geheimnisses und der Innerlichkeit, das Vertrauen auf den politisch-sozialen Fortschritt Europas vor einer Kritik seiner enttäuschenden Aspekte.

Im nun aufkommenden neuen Spiritualismus wirken einige Anregungen aus England und Frankreich, mehr und früher aber noch der christliche Sozialismus Tolstojs mit seiner Rückkehr zu Jesu Lehre der Sanftmut, seiner Verwerfung der repressiven und künstlichen Zivilisation und seiner Verherrlichung der karitativen Praxis. Das Vorbild des Romanciers Tolstoj ist unter anderem im ersten Roman von Miguel de Unamuno, Paz en la guerra (Frieden im Krieg, 1897), fühlbar, einem Versuch, den karlistischen Bürgerkrieg aus der Perspektive des Friedens, das politische Geschehen von der privaten Abfolge der Werke und Tage her darzustellen, kurz, die Historie durch die «Intrahistorie». Es war jedoch nicht das literarische Vorbild, sondern die sittliche Botschaft Tolstojs, welche die spanischen Intellektuellen am meisten beeindruckte, die derartigen Botschaften gegenüber immer besonders aufgeschlossen waren (Erasmus im 16., Krause im 19. Jahrhundert).

Gegen 1894 sprach die spanische Kritik vom Idearium Tolstojs als der Verheißung einer Aufwärtsentwicklung. Wer mit dem formalistischen Katholizismus und seinem Bündnis mit einer Politik des Immobilismus nicht einverstanden war, erblickte in jenem Idearium ein naives Christentum, bewundernswert an sich und wertvoll als kritische Waffe im Kampf gegen dogmatische Erstarrung und Reaktion. Benito Pérez Galdós4 nahm begeistert die evangelische Inspiration auf, die die letzten Werke des russischen Apostels ausstrahlten. Einen Eindruck davon kann der Roman Ángel Guerra (1890-1891) vermitteln, dessen Protagonist sich zwischen den beiden Extremen bewegt, die in seinem Namen angelegt sind (auf der einen Seite die Gottesliebe, der Geist der Mystik, Glaube und Nächstenliebe; auf der anderen der Wille, ins gesellschaftliche Geschehen einzugreifen, Aktivismus und kräftige erotische Impulse), und noch deutlicher Nazarín (1895), der Roman eines Priesters, der hinauszieht, um die Nächstenliebe auszuüben und so der Lehre Christi durch den Verzicht auf materiellen Besitz und durch völlige Selbstverleugnung wirkliches Leben zu verleihen.

Der neue Spiritualismus rief aber nicht nur dieses Wiederaufleben der Religiosität hervor, das von den Interessen der katholischen Kirche unabhängig war, ja ihnen zuwiderlief; er regte auch die Erforschung des persönlichen Gewissens und seiner verborgenen Wahrheit an. Leopoldo Alas führt zur Erklärung des Titels seiner Cuentos morales (Moralische Geschichten, 1896) an, daß in den meisten von ihnen das Entscheidende nicht die Beschreibung der äußeren Welt und die Erzählung geschichtlicher und gesellschaftlicher Vorfälle sei, sondern «der innere Mensch, sein Denken, Fühlen und Wollen»5. Doch ist es Galdós, der in diesem Sinn eine beispielhafte Entwicklung durchmacht. Der große Romancier, der mit solcher Lebendigkeit die nahe Vergangenheit Spaniens in seinen Episodios nacionales und die Gesellschaft seiner Zeit mit ihren ideologischen Konflikten (Novelas de la Primera Época- Romane der ersten Zeit), in ihrem wirtschaftlichen Gefüge und ihrer Klassenstruktur (Novelas Españolas Contemporáneas - Zeitgenössische spanische Romane, 1881/1885) dargestellt hatte, fühlt sich zuletzt unbefriedigt von diesem langen Bemühen um geschichtliche Rekonstruktion und Heraushebung des Typischen und Kollektiven; um die unbekannten Seiten der Wirklichkeit zu erhellen, zieht er es nun vor, das Individuell-Seelische zu ergründen. Schon in Fortunata y Jacinta (Fortunata und Jacinta, 1886/87) begegnen kämpferische Geister, die, sich gegen die Trägheit der Materie auflehnend, ihr Wirken auf ein transzendentes Ideal ausrichten und sich mühen, den Daseinssinn in einer höheren Wahrheit zu entdecken. In Miau (1888) erreicht die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft einen noch höheren Grad von Pathos. In Realidad (Wirklichkeit, 1889) schließlich versucht der Autor, die Tiefe dreier in sich gespaltener und voneinander getrennter Seelen auszuloten und die Wahrheit zu enthüllen, die gewissen, scheinbar rätselhaften Fakten zugrundeliegt, und er bedient sich hierzu einer unmittelbar gesprochenen Form (Apartes, Monologe, Dialoge, Gespräche), die von Erzählung und Beschreibung ganz absieht. Mit der Umarbeitung dieses Romans zu einem Bühnenstück beginnt Galdós im Jahre 1892 sein Schaffen als Theaterautor, das bis zum Ende eine soziale Mission zu erfüllen strebt, eine Unterweisung in Wahrheit, Freiheit, Willenskraft und Nächstenliebe.

In den anspruchsvollsten Dramen Galdós' (Realidad, 1892; Los condenados -Die Verurteilten, 1894; Electra, 1901; El abuelo - Der Großvater, 1904) sowie in einigen frühen Komödien von Jacinto Benavente (Gente conocida - Bekannte, 1896; Alma triunfante - Triumphierende Seele, 1902; La noche del sábado - Samstagnacht, 1903) ist, wie überall im fortschrittlichen Theater des damaligen Europa, der Einfluß Ibsens sowohl in technischer wie in ideeller Hinsicht erkennbar. In technischer Hinsicht kommt es in diesen Werken häufig vor, daß im Augenblick, da der Vorhang sich hebt, die Handlung schon weit fortgeschritten ist, so daß nun Analyse an die Stelle der Handlung tritt, oder daß die Entfaltung des Gewissens der Personen anhand bestimmter Fakten sehr viel wichtiger wird als diese Fakten selbst; es sind folglich auslegende, analytische Dramen, wie die des norwegischen Autors. Vor allem aber sind die Protagonisten dieser Dramen erfüllt von der Sehnsucht nach Authentizität, die sich zusammenfassen läßt im Ibsenschen «Sei du selbst!»: Salomé verurteilt José León zum Tode, um ihm seine Fülle als Person zurückzugeben (Los condenados), Electra führt ihren Kampf zwischen dem repressiven Vorurteil und der befreienden Wahrheit und gelangt zu dieser kraft einer Offenbarung (Electra), der Graf von Albrit steht in der Spannung zwischen dem adligen Ehrenkodex und der natürlichen Liebe, um sich schließlich für letztere zu entscheiden (El abuelo); das gleiche Engagement für die persönliche Wahrheit inmitten der gesellschaftlichen Heuchelei vertreten die Protagonisten der erwähnten Komödien von Benavente.

Die evangelische Praxis (Tolstoj) und die Selbstverwirklichung der Person (Ibsen): Das vor allem waren die Ideale, die einigen herausragenden spanischen Schriftstellern während der letzten Jahre des 19. Jahrhunderts halfen, die Enge ihrer Bildung zu überwinden und den verhüllten Lügen, von denen das politische Milieu der Restauration voll war, ein Gegengewicht zu bieten. Die neue Religiosität rückt das Problem der sozialen Gerechtigkeit und der Caritas in den Vordergrund zu einer Zeit, da die Lösung des ersteren sich noch in einem embryonalen Zustand befand; und das Ringen um eine Bestimmung der Authentizität der Person in einer Epoche politischer Korruption und einer sich deutlich abzeichnenden nationalen Katastrophe führt zu immer beklommeneren Versuchen, zu formulieren, was denn die wesentliche Wahrheit Spaniens in seiner Vergangenheit und seiner Zukunft sei.

Einer der letzten «zeitgenössischen Romane» von Galdós, Misericordia (Barmherzigkeit, 1897), führt nicht mehr einen Theoretiker und Praktiker der Nächstenliebe ein wie den Priester Nazarín (der teils ein wiedererstandener Christus, teils ein Don Quijote des Altruismus ist), sondern eine einfache Frau, eine Dienerin und Bettlerin, in der die Nächstenliebe Instinkt des Herzens ist. Indem er diese großmütige Bereitschaft zur Liebe in einem einfachen Menschen entdeckt, der nicht über das Gute reflektiert, sondern es verkörpert, zeigt Galdós, daß er das Tolstojsche Ideal sich tief zueigen gemacht hat, unabhängig davon, ob er Tolstojs Schriften mehr oder weniger gut kannte, denn nicht um Einfluß handelt es sich, sondern um eine Einstimmung verschiedener Geister im Hinblick auf ein gleiches Anliegen ihrer Zeit. Die Nächstenliebe als Lebenshaltung unabhängig von einem bestimmten Glauben ist ein Gedanke, der ins Fin de siècle hineinwirkt, trotz des Ästhetizismus, der gerade damals an Bedeutung gewinnt, vielleicht auch eben deshalb, da ja sowohl die Verfolgung des Guten um des Guten willen wie die Suche nach der Schönheit um ihrer selbst willen («l'art pour l'art») nichts anderes sind als zwei suprarationale Weisen, sich über die bloße Darstellung der materiellen, gesellschaftlichen und geschichtlichen Fakten zu erheben.

Ein sehr viel jüngerer Schriftsteller als Galdós, den man mit Recht als einen Vorläufer der «Generation von 1898» betrachtet, Angel Ganivet, zeigt sich ähnlich besessen vom Gefühl der Nächstenliebe, aber in einer mehr mystischen als logischen Weise. Die Stationen des geistigen Weges dieses ruhelosen Granadiners, der in Belgien und in Finnland lebte, heißen: Menschenliebe, Nächstenliebe, Vergottung des Ich. Das humanitäre Ideal, das er in dem utopischen Roman La conquista del reino de Maya (Die Eroberung des Königreichs Maya, 1897) entwirft, scheitert letztlich durch Zweifel an den sogenannten Segnungen des Fortschritts im europäischen Sinn. Das Ideal der Nächstenliebe, das in Los trabajos del infatigable creador Pío Cid (Die Arbeiten des unermüdlichen Schöpfers Pío Cid, 1898) dargelegt wird, einem Roman, der von neuen Arbeiten eines sittlichen Herkules inmitten der kleinlichen bürgerlichen Gesellschaft berichtet, scheitert am Mangel an Folgerichtigkeit, am Unernst oder an der Willkür, mit der Pío Cid seine Wander- und Lehrtätigkeit ausübt, denn diese ist für ihn eher ein Mittel, seinen Nihilismus zu vergessen, als ein Ergebnis verantwortungsbewußter Liebe. Begierig, den Glauben zu erobern, fordert der Mensch schließlich Gott heraus und träumt sich als Schöpfer der eigenen Seele (El escultor de su alma - Der Bildhauer seiner Seele; postumes Drama). Aber diese Schöpfung und das Ideal und der Glaube an die dem Menschen innewohnende Gottheit lassen sich nur im Tod verwirklichen: im symbolischen Tod des Bildhauers in dem erwähnten Drama und im realen Selbstmord des Schriftstellers Angel Ganivet (Riga 1898).

Seine Sehnsucht nach Authentizität richtete Ganivet auch auf die Erforschung des Wesens seines Vaterlandes im Idearium español (1897), einem Buch, in dem er die Spanier zuerst als ein stoisch-christliches, unabhängiges, kriegerisches, eigenbrötlerisches, geniales, aber ungeduldiges Volk bezeichnet, um dann ihre Geschichte als eine kräfteverzehrende Projektion nach draußen (Flandern, Afrika, Italien, Amerika) darzustellen, auf die schließlich eine lange Periode der Introspektion folgen mußte. Nur wenn Spanien sich auf sich selbst zu besinnen wisse -so dachte Ganivet-, könne es von seiner «Abulie», der Schwächung oder Aufhebung des Willens geheilt werden, welche der starre Blick auf seine glänzende Vergangenheit in ihm hervorgerufen hatte. Nicht mit den Waffen, sondern mit dem Geist; nicht unter der Diktatur eines Genies, das riesenhafte Unternehmungen angriffe, sondern unter der Leitung eines «Kopfes», der mit den Mitteln der Intelligenz ein Wiedererstarken der Willenskräfte herbeiführe: so könne das Volk Don Quijotes seine Gesundheit wiedererlangen.

Kurz zuvor, 1895, hatte Miguel de Unamuno seine Essays En torno al casticismo (Um ein authentisches Spaniertum) veröffentlicht, auch dies ein Erzeugnis des Verlangens, das Wesen des Vaterlandes zu erforschen. Der Grundgedanke des Buches: An die Stelle des geschichtlichen kastilischen Stammes als einziger Grundlage der spanischen Authentizität habe der ewige Stamm der Menschheit zu treten, der nicht aus toter Vergangenheit besteht, sondern sich aus der lebendigen Gegenwart nährt. Zwei Aufgaben drängen sich auf: die Europäisierung und das Hinabsteigen zu den Wurzeln des Volkes; Öffnung nach dem europäischen Kontinent und Vertiefung in die Wahrheit des Volkes als des Trägers des Unbewußten in der Geschichte.

Sowohl Unamuno wie Ganivet, die 1897 in Briefwechsel traten, um ihre unterschiedlichen Deutungen zu erörtern (El porvenir de España - Die Zukunft Spaniens, 1912), betrachteten den Niedergang Spaniens als eine Tatsache und seine geistige Wiedergeburt als eine Notwendigkeit. Unamuno, der damals die Klugheit Alonso Quijanos gegen die Narrheit Don Quijotes verteidigte, drängte auf eine Öffnung nach Europa; Ganivet empfahl seinerseits eher eine Versenkung in das Wesen Spaniens. En torno al casticismo und Idearium español sind Versuche einer Deutung Spaniens, die inmitten einer wachsenden Zahl von Regenerationsprogrammen ein Leuchtzeichen der Hoffnung auf die Rettung des Landes errichten wollen und für die «Generation von 1898» eine wegweisende Rolle spielen. Zu dieser Generation gehört Unamuno, der als ihr hauptsächlicher Anreger betrachtet werden kann.




Das Problem Spanien

Als Spanien 1898 durch die Vereinigten Staaten eine schwere militärische Niederlage erlitt, die zum Verlust seiner letzten Kolonien (Cuba, Puerto Rico, die Philippinen) führte, trat deutlicher als je zuvor die Korruption der politischen Führungsschicht zutage, deren beide Grundübel man alsbald als «Oligarchie» (die Zentralgewalt in den Händen einer Elite und im Dienst ihrer Interessen) und als «Caciquismo» (Verfälschung der Wahlvorgänge durch die «Kaziken» oder regionalen Sachwalter der Zentralgewalt) definierte. Unter denen, die sich um eine sofortige Reform bemühten, tat sich der Jurist Joaquín Costa hervor, der als Grundlagen einer Genesung den Ausbau der Volksbildung und den wirtschaftlichen Fortschritt betrachtete, der aber gleichzeitig, im Bewußtsein, welch lange Zeiträume solche Prozesse erfordern, auf den entschlossenen Willen und die rasche Wirksamkeit eines «eisernen Chirurgen» hoffte. Dieses Ideal einer diktatorischen Lösung sollte sich in den zwanziger Jahren mit der Diktatur des Generals Primo de Rivera konkretisieren.

Das Unglück des Vaterlandes und die verschiedenen Möglichkeiten einer Abhilfe bildeten schon vor 1898, vor allem aber danach die Thematik einer üppig aufschießenden «Regenerationsliteratur», in der sich herbe Kritik mit willkürlichen Reformvorschlägen verband, und die auf Schriftsteller wie Miguel de Unamuno, José Martínez Ruiz (Azorín), Ramiro de Maeztu und Pío Baroja einen bedeutenden Einfluß ausübte. Die Genannten bildeten zusammen mit Antonio Machado, Ramón del Valle-Inclán und Jacinto Benavente den Kern der sogenannten «Generation von 1898».

Selbst wenn man den Generationsbegriff als Kategorie der Klassifizierung verwirft, wie es der gegenwärtigen Tendenz entspricht, muß man doch einräumen, daß einige der genannten Autoren sich ausdrücklich einer «Generation» zugehörig fühlten, nämlich der Generation der zur Zeit der Niederlage von 1898 Zwanzig- bis Fünfunddreißigjährigen: Dieses Ereignis rief in ihnen ähnliche, manchmal gemeinsame, Reaktionen hervor, deren Generalnenner das drängende Bedürfnis nach einer Erneuerung Spaniens war.

Wenn auch die Dekadenz Spaniens ältere Ursachen hatte, so ging die jetzige Niederlage -der letztgültige Beweis dieser Dekadenz- zu Lasten der kompromißlerischen und verantwortungslosen Politik der Restauration: In dieser Überzeugung empörten sich die Schriftsteller der «Generation von 1898» gegen die damalige Lage, wobei die Positionen, die sie einnahmen, anscheinend sehr verschieden, im Grunde aber von gleicher Radikalität waren.

Geschichtlich manifestiert sich der Radikalismus der «Generation von 1898» in ihrer Feindseligkeit gegenüber allem, was die Restauration verkörperte. Daher ihre Abneigung gegen den rechten Katholizismus und den linken Positivismus, ihre Verachtung der bürgerlichen Mittelmäßigkeit, ihr Hohn auf die parlamentarischen Spielregeln, und in der Literatur ihre Aversion gegen die prosaische Dichtung Campoamors, das effekthascherische Drama Echegarays, die realistische Erzählkunst Galdós' und die apologetische Gelehrsamkeit Marcelino Menéndez Pelayos.

Ebenso zeigt sich dieser Radikalismus im Extremismus der grundsätzlichen «Haltungen», die man am zutreffendsten als anarcho-aristokratisch bezeichnen könnte: die Geringschätzung der «kleinkarierten» Emsigkeit in Handel und Industrie; die Abneigung gegen die Bürokratie (Polizei, Verwaltungsbeamte, Politiker); der Spott über die angeblichen bürgerlichen Tugenden (beruflicher Sachverstand, Sparsamkeit, Familieneintracht); die Verachtung der demokratischen Gleichmacherei und des Sozialismus, soweit er sich als Weiterentwicklung der Bourgeoisie verstehen ließ; die Neigung, die sittlichen Werte des Christentums umzukehren, sie zu pervertieren oder sie bisweilen in ihren rein formalen Aspekten zu hypostasieren; die auf die Spitze getriebene individualistische Originalitätssucht mit Zurschaustellung gesellschaftlicher Exzentrizität; das Trachten nach einem Übermaß an Grobheit oder an erlesenem Raffinement in Dingen des Geschmacks.

Nicht weniger radikal sollten sich diese Schriftsteller später in ihrem persönlichen Gesinnungswandel zeigen, und so ist es nicht verwunderlich, daß einige vom Agnostizismus zum katholischen Konformismus übergehen (Maeztu, Benavente), andere von zerstörerischer Gewaltsamkeit zu staatsbürgerlichem Gehorsam (Azorín, Maeztu), vom Ideal des Abenteuers um seiner selbst willen zum Ideal skeptischer Reflexion (Baroja), vom Aristokratentum zur Demokratie (Valle-Inclán), von einem jugendlichen Sozialismus zu einem kompromißlosen Individualismus (Unamuno).

Einer dieser Wandlungen unterliegt die Mehrzahl der Mitglieder der «98er Generation»: Fast alle verfechten anfangs die Europäisierung Spaniens als Lösung des «nationalen Problems», doch bald gehen sie dazu über, die Hispanisierung Spaniens zu fordern, das heißt die Bekräftigung und Wiederherstellung dessen, was Spanien zu dem gemacht hat, was es ist. Trotzdem verfällt keiner in apologetischen Nationalismus, immer nimmt die Liebe zu Spanien ihren Ausgang von einer Kritik, die ihrerseits von einem Vergleich mit Europa ausgeht. Es handelt sich folglich um einen Wandel in der Richtung des Gefühls, nicht um eine Verdunkelung der Unterscheidungsfähigkeit oder um ein Aufhören der Neugierde.

Von den Mitteln, die Miguel de Unamuno in En torno al casticismo vorgeschlagen hatte -Europäisierung und Versenkung in die ewige Tradition des Volkes- genügte es, eines hintanzusetzen, um ins Extrem zu verfallen. Die Niederlage von 1898 läßt Unamuno so stark das erste der beiden Ziele bevorzugen, daß er damals den Rat erteilt, Don Quijote zu begraben, um Alonso Quijano, den Verständigen, zum Leben zu erwecken. Doch verschiedene Faktoren, darunter eine wachsende Verachtung der bürgerlichen Vernünftigkeit, bringen ihn dann zur Geringschätzung des intellektuellen Menschen, der in jedem Fall dem natürlichen und spirituellen unterlegen sei (hier wird fühlbar, daß Unamuno im Klima des neuen Spiritualismus herangewachsen war). Und kurz nachdem er seine Bevorzugung der natürlichen Güte und der schöpferischen Phantasie gegenüber dem Verstand der Intellektuellen bekannt hatte, schreibt er seine Vida de don Quijote y Sancho (Leben des Don Quijote und Sanchos, 1905), in der er das Gegenteil dessen verkündet, was er eben noch angeraten hatte: Don Quijote sei wiederzuerwecken (auch Sancho, aber niemals Sansón Carrasco); ein Delirium, eine Barbarei oder eine heroische Narrheit müsse über Spanien hereinbrechen, über das heruntergekommene Spanien der Bakkalauren, Pfaffen, Barbiere, Stiftsherren und Herzöge, auf daß die Spanier lernten, die höchste Gerechtigkeit, die Wahrheit jedes einzelnen in seiner tätigen Einsamkeit, das Universale und das Ewige zu suchen. Die ewige Überlieferung des Volkes, die umfassende Intrahistorie werden hier gedeutet als Überlieferung des spanischen Volkes, als Intrahistorie Spaniens. Dieser zweite Punkt des anfänglichen Programms hat den andern so weit hinter sich gelassen, daß Unamuno mit Bezug auf die Intellektuellen des wissenschaftlichen und zivilisierten Europa den Satz wagt: «Sollen sie doch erfinden - wir werden uns ihre Erfindungen zu Nutze machen»6, was besagen will: auf die Wissenschaft und die Logik der Europäer mögen die Spanier mit ihrer Glaubenskraft antworten, indem sie jene Wissenschaft in Weisheit und jene Logik in eine Methode der affirmativen Leidenschaft umwandeln.

Ähnlich, wenn auch weniger schroff, entwickelte sich Ramiro de Maeztu. Anfänglich hatte er in Hacia otra España (Einem andern Spanien entgegen, 1899) die Rettung seines Volkes durch eine entschiedene Eingliederung in die industrielle und kapitalistische Bewegung Europas gefordert. Aber zwischen 1923 und 1936 wird er zum Paladin der katholischen Tradition und der Hispanität, der die ökumenische Sendung betont, die Spanien erfüllt habe, als es den Völkern der Neuen Welt (und der ganzen Welt) das Evangelium von der möglichen Erlösung aller Menschen brachte - welches auch immer ihr Land und ihre Volkszugehörigkeit seien (Defensa de la Hispanidad- Verteidigung der Hispanität, 1934).

Eine Wandlung unter ähnlichen Vorzeichen ist schließlich auch im Werk von José Martínez Ruiz (Azorín) zu beobachten, dessen erste Versuche der Analyse des Spaniertums, wie El alma castellana (Die kastilische Seele, 1900), La ruta de don Quijote (Die Route Don Quijotes, 1905) oder Los Pueblos (Die Dörfer, 1905), bei aller ehrfürchtigen Bewunderung der strengen Schönheit Kastiliens auf die Notwendigkeit hinweisen, nicht wenige Aspekte der Tradition und der Gegenwart einer kritischen Revision zu unterziehen. Doch im Verlauf einer sehr nuancierten und nicht geradlinigen Entwicklung verliebte auch Azorín sich immer stärker in die eigentümlichen Reize, die er im andersartigen Spanien entdeckte, und entfernte sich von seinem anfänglichen Enthusiasmus für Europa.

In einem Manifest, das sie im Dezember 1901 in Madrid unterschrieben, verkündeten Maeztu, Azorín und Baroja ihre Absicht, gemeinsam einen neuen gesellschaftlichen Status in Spanien herbeizuführen, indem sie als Grundlage einer Einigung der Jugend «die Anwendung der Gesellschaftswissenschaft auf die Miseren des Lebens» proklamierten. Ein verantwortungsbewußter und effizienter Altruismus inspirierte dieses Programm, das zu einem guten Teil von Joaquín Costa herkam. Die Aufdeckung der Misere der Landbevölkerung, der Verheerungen durch Hunger, Prostitution und Alkoholismus, der Hinweis auf die Notwendigkeit der Schulpflicht, der Gründung von landwirtschaftlichen Kreditanstalten und der Einführung der Ehescheidung waren die hervorstechenden Punkte in jenem Manifest. Von den drei Unterzeichnern bewahrte nur Maeztu die Neigung zum Eingreifen in politische und gesellschaftliche Fragen; Azorín und Baroja zogen sich in der Folge auf den Bezirk des literarischen Schaffens zurück, von wo aus sie weiterhin Kritik übten, oft mit heilsamer Wirkung. In dem erwähnten Manifest waren die Enzyklopädisten sowie Schopenhauer und Nietzsche zitiert; als mögliche Grundlage der Einigung wurde das religiöse Dogma, der republikanische oder sozialistische Doktrinarismus und selbst das demokratische Ideal («Absolutismus der Zahl») verworfen; es wurde anerkannt, daß einige unter den Jungen an «wütend individualistische Lösungen» glaubten, wobei der Name Zarathustras fiel7.

In der Tat waren der schroffe Individualismus der «Generation von 1898» und ihre Angriffe auf die Bourgeoisie nicht nur eine Reaktion auf die herrschende Mittelmäßigkeit, sie waren auch in der Sympathie für bestimmte antirealistische Strömungen in Frankreich (die Décadents, Symbolisten und Egotisten) begründet, und schließlich standen sie unter dem Einfluß gewisser europäischer Berühmtheiten des Fin de siècle: Kierkegaard, Ibsen und Nietzsche, Wagner, Wilde, D'Annunzio und Maeterlinck.

Insbesondere bestimmt und festigt das Denken Nietzsches die Mehrzahl der wesentlichen Auffassungen der «Generation von 1898». In einigen Fällen trug es überhaupt erst zu ihrer Herausbildung bei, indem es zum Widerspruch herausforderte. In Übereinstimmung mit dem deutschen Denker betrachtet man das Christentum als eine lebensfeindliche Religion voller Melancholie und unfruchtbarer Schicksalsergebenheit; das gilt für den jungen Maeztu und den jungen Azorín, für Pío Baroja während seines ganzen Lebens, und selbst Unamuno, der Nietzsche seine Angriffe auf das Christentum nicht verzeiht, benutzt bei seiner irrationalen Verteidigung des Christentums Kategorien Nietzsches, so den Gedanken vom Tod Gottes oder die Vorstellung von Christus als einem archetypischen «Übermenschen». Auf all diesen Wegen streben diese Schriftsteller danach, den Wert des «Lebens» zu mehren. In der Bevorzugung des Lebens vor der Vernunft liegt ihre geheime Anarchie. Unamuno preist die Lebenslüge, die quijoteske Narrheit, den Glauben um des Glaubens willen und das Lebensgefühl als ein unaufhörliches Duell zwischen Herz und Kopf (Del sentimiento trágico de la vida - Vom tragischen Lebensgefühl, 1913). Maeztu und Baroja stellen immer wieder fest, das Leben sei weder gerecht noch ungerecht, weder gut noch schlecht, sondern einfach notwendig, und Baroja proklamiert sogar die Ausbreitung des Immoralismus, dafür, daß mit der Idee der Sünde aufgeräumt werde. Azorín macht sich eine relativistische Moral zu eigen und versucht eine Revision der Werte vor dem Hintergrund der Werteskala des Lebens. Sie alle treten, mit mehr oder weniger großen Vorbehalten zugunsten des Mitleids, für eine diamantene Härte ein. Ihr Argwohn gegenüber Demokratie und Sozialismus wird ebenfalls durch Nietzsche gestützt, ebenso ihre Hochschätzung der energischen Individualität, die sie schwanken läßt zwischen dem Ideal der extremen Anarchie und der Neigung zu extremer Autorität, konzentriert auf eine einzige Persönlichkeit.

Ein Heilmittel aber suchen sie vor allem in Nietzsche: die Willenskraft. Unamuno stellt dem herrschenden «Marasmus» die zukunftsbezogene Energie gegenüber, den Eroberungsinstinkt, und allenfalls die herrscherliche Caritas (in einigen seiner Essays und in seiner Vida de don Quijote y Sancho). Der spanischen «Paralyse» gegenüber predigt Maeztu den Willen zur Selbstbehauptung und zum Aufstieg und sagt der «Dekadenz» den Kampf an (Hacia otra España). Pío Baroja glorifiziert den Mann der Tat, der im Handeln seine Gewissensqualen vergißt, wobei der ebenfalls bedeutende Einfluß Schopenhauers zum Vorschein kommt (La feria de los discretos - Der Jahrmarkt der Verständigen, 1905; Zalacaín el aventurero - Zalacaín der Abenteurer, 1909; César o nada - Caesar oder nichts, 1910). Um die «Entkräftung» zu überwinden, vertraut Azorín auf das Wiedererstarken der Willenskraft (La voluntad, 1902; Antonio Azorín, 1903). Auch fehlen nicht einige Projektionen des «Übermenschen» als Aufgipfelungen der neuen Moral und des neuen Willens zur Macht: Don Quijote und sogar Christus (Unamuno), Don Juan und der «Ritter der Hispanität» (Maeztu), oder, auf bescheidenerer Stufe, einige Helden Barojas und selbst Ganivets Pío Cid. Als Folge der Nietzsche-Lektüre bevölkert sich der spanische Roman mit schwierigen, stolzen und abeuteuerliebenden, die Décadence auslebenden und die Gefahr suchenden Gestalten; die Prosaliteratur bereichert sich mit ganz neuen, essayistischen Formen, indem sie einerseits predigthafte, pathetische und gleichsam priesterliche Posen annimmt, andererseits geschmeidig wird, sich verdichtet und eine schwebende Energie gewinnt.

Innerhalb der «Generation von 1898» zeichnen sich zwei Hauptrichtungen ab: Die eine setzt sich die Schönheit um ihrer selbst willen zum Ziel und nimmt sich vor, die Formen der Empfindung und des Ausdrucks zu erneuern («Modernismo»), die andere möchte der Kunst eine kritische und erneuerungsträchtige Intention einprägen («Noventa y Ocho»). Obwohl beide Richtungen in fast all dem übereinstimmen, was sie negieren, ist die erste doch mehr ästhetisch, die zweite mehr ethisch orientiert.

Die Mitte aller Bestrebungen von «Noventa y Ocho» bildet Spanien selbst, das als Objekt einer idealen Erneuerung und als Objekt dichterischer Erfahrung betrachtet wird.

Als Objekt idealer Erneuerung scheint Spanien Opfer seiner Trägheit und seiner Nachlässigkeit, und es handelt sich nun darum, ihm durch den Glauben (Unamuno), durch die Tat (Baroja) und durch die Sensibilität (Azorín) neues Leben einzuhauchen, Unamuno rät zur besonderen Religion des Quijotismus, Baroja setzt der Besonnenheit der «Verständigen» den unerschöpflichen Dynamismus des Abenteurers entgegen, Azorín sucht in der vergangenen Literatur vergessene Werte auf (in Büchern wie Clásicos y modernos - Klassiker und Moderne, 1913; Los valores literarios - Die literarischen Werte, 1914; oder Al margen de los clásicos - An den Rand der Klassiker geschrieben, 1915); Maeztu predigt die Notwendigkeit, die Liebe Don Quijotes, die Macht Don Juans und die Weisheit der Celestina zu einer Wertlehre der Wirksamkeit zu verknüpfen (Don Quijote, don Juan y la Celestina, 1926); So streben sie alle danach, neues Leben, einen neuen Menschentyp zu schaffen, unermüdlich an die geistige Wiedergeburt Spaniens denkend, das dennoch zwischen 1898 und 1918, zwischen dem eigenen Krieg und dem Krieg der Welt, den Gewohnheiten der von ihnen gehaßten Epoche verhaftet blieb und die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme wachsen sah, ohne ihnen vom Politischen her eine angemessene Lösung geben zu können.

Auch als Objekt dichterischer Erfahrung steht Spanien im Mittelpunkt der Sorge der Generation von 1898. Ihr größter Dichter, Antonio Machado, übersetzt seinen Hang zur Kontemplation in Rhythmen und Bilder von außergewöhnlicher Transparenz in Soledades (Einsamkeiten, 1903) und Campos de Castilla (Kastilische Landschaft, 1912). Campos de Castilla ist bei aller bitteren Kritik ein fortwährendes Zeugnis der Liebe zu dieser zentralspanischen Landschaft, in der fast alle diese Künstler (paradoxerweise keine geborenen Kastilier) den Mythos erkannten, der die Geschichte ganz Spaniens geformt und durch seine landschaftliche Eigenart geprägt hatte.

Im Roman der «98er» tritt, bei aller Verschiedenheit der Gestaltung im einzelnen, die gleiche Sorge um das Schicksal Spaniens zutage. Obwohl Unamuno die ewige Wirklichkeit des Menschen sucht, zeichnet er doch in seinen «nivolas» (dramatische Romane fast ohne Bericht und Beschreibung) die Leiden und Leidenschaften auf, die er in seinem Volk am tiefsten verwurzelt glaubt: die Unentschiedenheit des Willens (Niebla - Nebel, 1914), den Neid (Abel Sánchez, 1917), die mütterliche Jungfräulichkeit (La tía Tula - Tante Tula, 1921), das Fehlen des Glaubens und den Hunger nach Glauben (San Manuel Bueno, mártir, 1933). In den Dingen, Landschaften und Seelen, die Azorín in seinen Romanen vorstellt (von La voluntad bis Don Juan, 1922 oder Doña Inés, 1925), spürt man unter der Übersensibilität eines in seine Erinnerungen, Eindrücke und Phantasien versponennen Ichs ein schmerzhaftes Mitgefühl für das unbewegliche und abgesonderte Spanien, das der Dichte von Beziehungen entbehrt, die andere europäische Länder auszeichnet. Auch Valle-Inclán, der anfänglich einige seiner Romane (darunter eine seiner Sonatas) in exotische Milieus verlegt hatte, bekundet später seine Kritik am gegenwärtigen Spanien in seinem grotesken «Altargemälde» El ruedo ibérico (Die iberische Arena), einer Spielart des historischen Romans, die nicht weniger durch genaue Dokumentation als durch ironische Anspielungen auf Umstände der Gegenwart gekennzeichnet ist.

Doch es ist der fruchtbarste Romanautor dieser Zeit, Pío Baroja, der einen Romantyp mit größtmöglicher Offenheit gegenüber der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit seines Volkes vertritt. Camino de perfección (Weg zur Vollkommenheit, 1902) entfaltet den Konflikt zwischen Aktion und Kontemplation, zwischen Lebenskraft und Mystik. Sein Held Fernando Ossorio, auf beständiger Wanderschaft durch ein verschattetes Spanien, ist der dekadente Künstler und der von einem krankhaften Hang zur Mystik heimgesuchte Christ. Sein Entschluß, das Labyrinth der Hauptstadt zu verlassen und sich auf den Weg zu machen durch das spanische Land, seine Dörfer und Städte (Toledo, die Mittelmeerküste), bedeutet den Versuch, in die Wahrheit der Heimaterde einzudringen. Im Friedhof des Klosters El Paular, mitten in Kastilien, erlebt Fernando, während er dem Flug der Schmetterlinge zuschaut und dem Plätschern einer Quelle zuhört, symbolisch den Triumph des Frühlings über die Gräber der Religion. Später wird er, von der Geliebten begleitet, im romanischen Kreuzgang der Kathedrale von Tarragona Zeuge des Duells zwischen der tausendjährigen christlichen Moral und der ewigen Unschuld des natürlichen Lebens:

«Ruhe und Stille herrschten in jenem geheimnisvollen Klostergang. Dann und wann ließen die vorüberziehenden Wolken ein Stück Himmel frei, von schmeichelndem Blau wie die Liebkosung einer Geliebten.

Dann begannen einige rotgewandete Domherren den Gang zu durchschreiten; Glokkenläuten in der Luft. Die Musik der Orgel ließ sich vernehmen, sie kam sanft daher, gefolgt vom Gemurmel der Gebete und Gesänge. Es verstummte das Geräusch der Gesänge, es verstummten die Klänge der Orgel, und es war, als sängen die Vögel lauter und als krähten in der Ferne die Hähne kräftiger. Und sogleich verbargen sich diese Stimmen wieder hinter den Stimmen des düsteren Bittgebets, das die Priester im Chor anstimmten und zu dem rächenden Gott emporsandten.

Es war eine Entgegnung, die der Garten an die Kirche richtete, und wiederum eine schreckliche Antwort der Kirche an den Garten.

Im Chor schleuderten die Klagen der Orgel, die Psalmen der Priester einen furchtbaren Bannfluch voll Abscheu und Haß gegen das Leben; im Garten feierte das Leben seinen gelassenen Triumph, seinen ewigen Triumph»8.



Der Zyklus La lucha por la vida (Der Kampf ums Leben, drei Bände, 1904/05) stellt das Lumpenproletariat von Madrid aus einem biologisch-soziologischen Blickwinkel dar, der zwar einige Anregungen ans dem alten Schelmenroman aufnimmt, aber der Beobachtungsweise eines Galdós näher steht. Von da an schreibt Baroja Romane, die entweder die Willenskraft des starken Individuums verherrlichen, das in der Gefahr seinen Wagemut auf die Probe stellt (César o nada) oder den kontemplativen Menschen zeigen, der dem Gift der christlich-abendländischen Kultur unterliegt (El árbol de la ciencia - Der Baum der Wissenschaft, 1911). In beiden Romantypen aber ist die versteckte oder offene Botschaft die gleiche, die Baroja für Spanien im Jahr 1920 so formuliert:

«Wir Spanier sind in früheren Epochen groß gewesen, als wir vom Krieg, der Gefahr und der Tat gesäugt wurden; heute sind wir es nicht. Solange wir kein anderes Ideal haben als das einer armseligen bürgerlichen Geruhsamkeit, werden wir unbedeutend und dürftig sein. Wir müssen den Blitz herbeiholen, falls der Blitz reinigt; wir müssen den Krieg, die Gefahr, die Tat herbeiholen und sie auf die Kultur und das moderne Leben richten»9.



Im Drama findet die Sorge um Spanien einen weniger unmittelbaren und kontinuierlichen Ausdruck als im Roman, denn der fruchtbarste Stückeschreiber dieser Epoche, Jacinto Benavente, fühlte zwar anfänglich, wie seine Altersgenossen, die Notwendigkeit einer heilenden Kritik, und wie sie bekämpfte er die enge Routine des Milieus der Restauration; aber schon bald verband er sich den Konventionen der Tradition, dem Konformismus und dem kurzsichtigen Patriotismus. Trotzdem ist die satirische Absicht unverkennbar, die seine berühmtesten Werke inspiriert, zum Beispiel Los intereses creados (Die selbstgeschaffenen Interessen, 1907) und La ciudad alegre y confiada (Die heitere und vertrauensvolle Stadt, 1916). Andererseits darf hier der alte Galdós nicht vergessen werden, der in Electra (1901) und Casandra (1910) so mutig den Konflikt der «beiden Spanien» anklagte, der in Alma y vida (Seele und Leben, 1902) mit Zartgefühl die Niedergeschlagenheit der Volksseele nach der Katastrophe von 1898 zu evozieren wußte und in Santa Juana de Castilla (1918) mit der Besorgnis der Königin für ihr Volk und ihrer verzückten Geistesverwirrung einen suggestiven Kontrapunkt zum geistig-politischen Klima von 1917/1918 zu schaffen wußte, einer Zeit der Streiks und Volksaufstände und der Inhibition Spaniens (der «heiteren und vertrauensvollen Stadt») angesichts des Krieges in Europa. Abgesehen von diesen Autoren aber ist es Valle-Inclán, der in seinen Stücken, wenn auch mehr durch das Buch als die Bühne (seine dramatischen Werke gelangten zu seinen Lebzeiten kaum zur Aufführung) den höchsten Grad künstlerischer Neuheit und klarer Zeugenaussage erreicht.




Impressionistische Technik

Das künstlerische Verfahren sowohl der Richtung «Noventa y Ocho» wie des «Modernismo» entspricht im allgemeinen dem, was man als Impressionismus zu bezeichnen pflegt: Primat des Ich mit seinen Intuitionen und seelischen Augenblickszuständen, fragmentarische Erfassung des Objekts und Strukturierung des Werkes, Vorherrschaft einer sinnlichen Erfahrungsweise, die visuelle, chromatische und atmosphärische Eindrücke an die Spitze stellt.

Bei den Schriftstellern der Richtung «Noventa y Ocho» wird der Ästhetizismus, die Verliebtheit in den reinen Empfindungseindruck und in die autonome Schönheit der Kunst gegenüber dem Leben und über dem Leben gezügelt durch verschiedene Faktoren: durch ein starkes ethisches oder religiöses Anliegen (Baroja, Machado, Unamuno), durch eine stufenweise fortschreitende Suche nach symbolischen Werten, die ein dichterisch zusammenhängendes Weltbild stützen sollen (Valle-Inclán) und vor allem durch einen Erneuerungswillen, der alle antreibt, sich um Spanien zu sorgen und sie hindert, sich in einen Elfenbeinturm einzuschließen.

Trotzdem ist es unverkennbar, daß impressionistische Sensibilität das essayistische Werk von Unamuno und Azorín, die Romane von Azorín und Baroja und die frühen Werke von Valle-Inclán prägt.

Die Ensayos (Essays), die Unamuno zwischen 1916 und 1918 gesammelt veröffentlichte, stellen mit ihrem Fehlen eines dogmatischen oder gelehrten Anspruchs, ihrem vertraulich-ermahnenden Ton und ihrer gespannten Expressivität ein Genus dar, für das man in Spanien schwerlich Vorläufer finden dürfte. Ihr rücksichtslos exzitierender Stil gründet sich auf eine Norm gedankenschwerer Schreibkunst, zu deren Wesen es gehört, sich mit Gefühlsausbrüchen, blitzschnellen Erklärungen von glühender Luzidität, mit Ellipsen, brüsken Gedankensprüngen und energischen, scharfkonturierten Bildern an die Seele des Einzelnen zu wenden. Das Muster eines ausgedehnten impressionistischen Essays ist Vida de don Quijote y Sancho, ein Werk, das intuitiv das Wesen des kommentierten Textes von den beherrschenden Zügen her erfaßt und diesen Text von der Biographie und dem Charakter seines Autors (Cervantes) loslöst, um ihn zu aktualisieren und ihn durch persönliche Bezüge, durch vorsätzlich subjektive Auffassungen und durch lyrische Paraphrasen zu einer neuen Schöpfung, einer Schöpfung Unamunos, zu machen:

«"Ich weiß, wer ich bin!" Beim Anhören dieser selbstbewußten Behauptung des Ritters wird mancher ausrufen: "Das ist mir aber ein anmaßender Hidalgo!... Seit Jahrhunderten sagen und wiederholen wir, daß das Streben nach Selbsterkenntnis das vorrangige Streben des Menschen sein soll, und daß bei der Kenntnis seiner selbst jedes Heil anfängt; und nun kommt so ein Angeber daher und behauptet ganz einfach: 'Ich weiß, wer ich bin!' Das allein genügt, um die ganze Tiefe seiner Narrheit auszumessen". Nun, hier bist du es, der sich irrt, wenn du so sprichst; Don Quijote unterhielt sich mit seinem Willen, und als er sagte: "Ich weiß, wer ich bin!", sagte er nichts anderes als "Ich weiß, wer ich sein will!" Und das ist der Angelpunkt des ganzen menschlichen Lebens: daß der Mensch weiß, was er sein will. Daran, was du bist, darf dir nicht viel liegen; für dich ist die Hauptsache, was du sein willst. Das Wesen, das du bist, ist nur ein hinfälliges und vergängliches Wesen, das sich von der Erde ernährt und das die Erde eines Tages verschlingen wird; was du sein willst, ist deine Idee in Gott, dem Gewissen des Universums; es ist die göttliche Idee, deren Manifestation in Zeit und Raum du bist. Und dein Verlangen nach diesem Etwas, das du sein willst, ist nichts andres als die Sehnsucht, die dich zur göttlichen Heimat zieht. Ein wahrer und ganzer Mensch ist nur der, der mehr sein will als ein Mensch. Und wenn du, der du dem Don Quijote seine Anmaßung vorwirfst, nur sein willst, was du bist, dann bist du verloren, unwiderruflich verloren»10.



Impressionistisch sind auch die Essays Azoríns, der jedwedes Einzelmotiv seiner Lektüren oder Reisen (einen Vers, einen Satz, ein einziges Wort, das Bild eines Menschen oder eines Platzes, eines Balkons, die Wiederholung oder die Einzigartigkeit einer Bewegung oder Gebärde) benutzt, um die Geisteshaltung eines Künstlers zu evozieren, den Schlüssel zu einem Werk zu entdecken, den geheimen Zauber einer Stadt ausfindig zu machen oder die Sensibilität einer ganzen Epoche zu definieren. Und wenn die Essays Azoríns Galerien unzusammenhängender Bilder sind, oder auch Altargemälde, deren Szenen trotz äußerlich getrennter Momente die Einheit einer Geschichte voraussetzen, so gehen seine Romane auf die gleiche Weise vor: Die Handlung fehlt in ihnen oder sie bleibt auf ein Minimum beschränkt, und sie beanspruchen nur, mit Genauigkeit und Nachdruck einige Augenblicksempfindungen, einige subtile Gefühlsverschiebungen wiederzugeben, wobei sie die Ellipse in Zeit, Raum und Handlung zur Norm machen. Zu diesem Moment- und Fragmentcharakter kommt die exquisite Sorgfalt hinzu, mit der Azorín die Landschaft (vor allem die kastilische und mittelmeerische) beschreibt. Für Azorín ist «die Landschaftsdarstellung der höchste Grad der literarischen Kunst» (La voluntad), eine Behauptung, die allein in der Blütezeit der impressionistischen Malerei verständlich sein kann11.

Die Neigung und Berufung zur Landschaftsdarstellung zeichnet all diese Schriftsteller aus: Unamunos Paisajes (Landschaften, 1902) sind an geistiger Tiefe nur denen vergleichbar, die Antonio Machado in Campos de Castilla gelungen sind, und in der Feinheit der Wahrnehmung von Farben und Lichteffekten kann mit Azorín sein Generationsgenosse Baroja in Camino de perfección wetteifern, wenn auch später, als Azoríns Landschafterei sich noch weiter akzentuierte, die Landschaftsdarstellung des mehr am Menschen und an den zwischenmenschlichen Beziehungen interessierten Baroja sparsamer wurde. Und wenn Azorín, auf einem weiteren Element des Impressionismus -der Vorherrschaft des künstlerischen Ichs über die Geschöpfe seiner Erfindung- insistierend, begonnen hatte, sich selbst unter dem Namen «Azorín», den er später zu seinem Pseudonym machen wird, als verschleierten Helden seiner Romane einzuführen, so enthüllt Baroja, der nicht müde wurde, die imaginären Möglichkeiten seiner Persönlichkeit auf Helden des kühnen Abenteuers oder des hochempfindlichen Schmerzbewußtseins zu verteilen, letzdich eine ähnlich egozentrische Tendenz; Haupt- und Nebengestalten seiner Romane sprechen und handeln vom Wesen Barojas her, als untereinander kaum unterschiedbare Sprachrohre dessen, was der Schriftsteller denkt und empfindet. Eine weitere impressionistische Eigenart der Erzählungen Barojas ist ihr loses Gefüge. Obwohl fast alle zu kleinen Zyklen (Trilogien) zusammengefaßt sind, und obwohl in Memorias de un hombre de acción (Erinnerungen eines Tatmenschen, 1913/1935) das Romangeschehen sich über zweiundzwanzig Bände erstreckt, besitzt jedes einzelne Stück Selbständigkeit oder strebt nach ihr, und in allen ist der isolierte Augenblick bedeutsamer als die Geschichte im Ganzen, ein einzelner Seelenzustand wichtiger als das Gesamtbild einer Gestalt, eine in ihrem Augenblickszustand erfaßte Landschaft wichtiger als das umfassende, natürliche oder gesellschaftliche Panorama. Die Beweglichkeit der Räume, die Heterogenität der Figuren und die lebendige Offenheit der Romane Barojas zeugen einerseits von einer erzählerischen Vitalität, an die keiner seiner Generationsgefährten heranreicht, andererseits von der impressionistischen Haltung, die er mit ihnen teilt.

Der Tendenz des Impressionismus, dekadente Stimmungen zu kultivieren, für welche Raffinements und Verirrungen nur die Zurschaustellung einer erbitterten Negativität sind, gibt Unamuno nie, geben Azorín und Baroja nur selten nach. Nur Valle-Inclán huldigt in seiner ersten Etappe dem Satanismus (Sonata de otoño - Herbst-Sonate, 1902) und der kindlichen Schwärmerei (Flor de santidad - Blume der Heiligkeit, 1904). Doch später ist er der erste, der über die impressionistische Rezeptivität hinauslangt und sich einen allumfassenden Symbolismus zum Ziel setzt, sowie Formen, die radikal mit der Ästhetik seiner Zeit brechen. Valle-Inclán wird so zum revolutionärsten Künstler des spanischen Modernismus, dessen Stil er selbst mit äußerstem Scharfblick definiert hatte.

1902 schrieb er: «Wenn es in der Literatur etwas gibt, worauf der Name Modernismus paßt, dann ist dies sicher ein lebhaftes Verlangen nach Persönlichkeit, und deshalb bemerken wir bei den jungen Schriftstellern ein stärkeres Insistieren auf Empfindungen als auf Ideen»12. Juan Ramón Jiménez dagegen sieht im Modernismus «die Neubegegnung mit der Schönheit, die während des 19. Jahrhunderts durch die vorherrschende bürgerliche Dichtung verschüttet worden war», und definiert ihn als «eine große, enthusiastisch-freiheitliche Bewegung zur Schönheit hin»13.

Krisenhafte Unzufriedenheit mit dem bürgerlichen Jahrhundert, Individualismus, Freiheitsdurst, anarchische Haltung -das sind Züge, die gleichermaßen auf den «Modernismo» wie auf «Noventa y Ocho» zutreffen: Aber auch die enthusiastische Bewegung zur Schönheit hin, die Bevorzugung des Sinneseindruckes- sie bestimmen das Ziel und Vorgehen des «Modernismo». Das Besondere an ihm kommt in seinen Lieblingsthemen zum Ausdruck: in der Erotik mit ihren heidnisch-christlichen Konflikten, in der griechisch-lateinischen Mythologie, der Verführung durch die italienische Renaissance, dem Exotismus, dem Kosmopolitismus, der nicht unkritischen Bewunderung für das Spanien des Goldenen Zeitalters, dem priesterlichen Kult der Schönheit und der geistigen Aristokratie, die gegen den mittelmäßigen Vulgus zur Schau getragen wird. Ebenso sind als gebräuchliche Ausdrucksformen zu beobachten: ein origineller, prunkvoller, oft archaisierender Wortschatz; die Häufung von impressionistischen Stilmitteln wie der Synästhesie, des seltenen Beiworts und der veredelnden Metapher; die musikalische Suggestion des Wortes; neue Verbindungen von Akzenten und Reimen, Metren und Strophen; die Verwendung des Freien Verses und der dichterischen Prosa.

Rubén Darío aus Nicaragua, der lange Zeit in Paris und Madrid lebte, wurde zum Bahnbrecher des Modernismus in Spanien; er war es, der die jungen spanischen Dichter der Lethargie entriß, in der sie sich den vorherrschenden Formen der nationalen Lyrik gegenüber befanden, als da waren: die epigrammatische Skepsis Campoamors, die bürgerliche Rhetorik des Núñez de Arce, die kraftlosen Nachahmungen der wesenhaften Romantik eines Bécquer. Durch Vermittlung Daríos wurden umfangreiche ausländische Einflüsse wirksam, besonders der Verlaines (erst später begriff und bewunderte man Baudelaire, Mallarmé und Rimbaud, in deren «entromantisierter Romantik» Hugo Friedrich den Angelpunkt der «modernen» Dichtung erblickt14). So gelangte -durch Vermittlung Daríos, aber auch unmittelbar- Verlaines gefühlsbetonter, musikalischer und melancholischer Symbolismus zunächst zu unverkennbarer Vorherrschaft, wie sich an Manuel Machado, Valle-Inclán und anderen Dichtern beobachten läßt. Für sie war das Hauptthema das gleiche wie für Verlaine und für Rubén Darío: Eros im Kampf mit dem christlichen Logos, die Sinnlichkeit im Kampf mit der geistlichen Liebe und dem naiven Glauben. Doch waren nicht sie die bedeutendsten Lyriker, sondern Unamuno (Poesías, 1907) und vor allem Antonio Machado und Juan Ramón Jiménez, beide Schüler Daríos, die dann aber eigene Wege einschlugen.

Antonio Machado zog dem Kult der Form und der Empfindung «ein tiefes Pulsen des Geistes» vor, wie er selbst 1917 erklärte: Für ihn kam es darauf an, was die Seele mit ihrer eigenen Stimme auf die Berührung mit der Welt antwortet; er wollte «die tiefinnern Ideen, die Universalia des Gefühls erahnen»15. Das Datum dieses Bekenntnisses brachte es mit sich, daß Machado auch sein Verlangen aussprach, in der Dichtung den Lebensstrom einzufangen, und zwar kraft der Intuition und nicht auf Grund von Begriffen, um das Ursprüngliche und Spontane zu bewahren. Vom ausgeprägten Subjektivismus der Sammlung Soledades. Galerías. Otros poemas (Klagegesänge, Galerien und andere Gedichte, 1907) versuchte er sich zu lösen, um zur Schaffung einer Poesie der Solidarität und Bewußtseinshelle beizutragen, die auf das Äußere ohne Vernachlässigung des Inneren zu achten hätte. Auf der Suche nach Wesentlichkeit schrieb er die Dichtungen des Bandes Campos de Castilla (1912), in denen er von der Sorge um das Schicksal des Landes, von der Liebe zu seiner Wahlheimat und von seinen Meditationen über das Rätsel des Menschseins Zeugnis ablegt. Später vertiefte er mit Nuevas canciones (Neue Lieder, 1924) und den verschiedenen Ausgaben der Poesías completas (1917, 1928, 1933, 1936) die metaphysische Sinngebung seines Dichtens. Durch sein gesamtes Werk (auch durch die Aphorismensammlung Juan de Mairena, 1936) wie durch seine Teilnahme am Bürgerkrieg an der Seite des Volkes wurde Machado zum verantwortungsvollsten Dichter seiner Zeit. Auf ihn gehen die Hauptlinien der spanischen Lyrik nach 1939 zurück: die existentielle, um menschliche Kommunikation bemühte, die soziale, von Solidarität mit dem Schicksal der Massen kündende, und die persönlich-geschichtliche, der es um Erkenntnis der Wirklichkeit aus einer ethischen und metaphysischen Perspektive ging. Es waren dies drei Aspekte eines fundamentalen Realismus, die der Dichter aus dem Zwiegespräch mit seiner individuell und geschichtlich gelebten Zeit gewonnen hat und die dem Ästhetizismus, dem Surrealismus und der «poésie pure» gleich fern stehen.

Von einer grundsätzlichen Einsamkeitshaltung her singt und sagt Antonio Machado von der Erfahrung der Zeit, von der Angst und Beklemmung dieser Erfahrung; er tut es in traumhafter Weise und in einer Sprache, die der Intuition ihre Eigenart bewahrt als ein Etwas, das konkret in Zeit, Raum und persönlichem Bezug ergriffen wird:



Und soll denn mit dir sterben die zaubrische Welt,
wo Erinnerung aufhebt
den reinsten Atem des Lebens,
den weißen Schatten der ersten Liebe,

die Stimme, die zu deinem Herzen ging, die Hand,
die in Träumen du festhalten wolltest,
und jede Liebe,
die zur Seele, zum tiefen Himmel drang?

Und soll mit dir sterben deine Welt,
das alte Leben in deiner und neuer Ordnung?
Die Ambosse und Schmelztiegel deiner Seele,
arbeiten sie nur für den Staub und für den Wind?16



Der Dichter befragt in der Einsamkeit sich selbst. Das befragte Du ist dieses in der Reflexion aufgespaltene Ich, das für den gilt, der spricht, insofern er Empfänger seiner eigenen Botschaft ist, und für jedes menschliche Wesen, in dem die Botschaft einen echten Widerhall findet. Dreifach ist die Frage: Soll mit dem Menschen jene Gefühlswelt sterben, die sein wertvollstes Teil ist: Erinnerungen und Hoffnungen, Liebe und Verlangen? Soll mit dem Menschen sterben, was in seiner geistigen Welt am wertvollsten ist: die persönliche und neue Deutung, die der Mensch von der gesamten Geschichte gibt, indem er sie durch das Sieb der Erfahrung seiner Phantasie und seines Intellekts gehen läßt? Und arbeiten endlich der Wille, der so heftig liebte und sich mühte, und der Geist, der solche Vielfalt in seiner unwiederholbaren Einheit zu verschmelzen wußte, nur, um der Vernichtung anheimzufallen?

Es ist dies eine Frage, die sich aus jedem Augenblick, aus jeder Lage des menschlichen Lebens ergibt, und da dies so ist, verwundert es nicht, daß sie mit dem universalen Kontext durch die Kopula «und» verknüpft ist und so vernehmbar wird: «Und soll denn mit dir sterben deine Welt?». Der Dichter verleiht seiner Frage keine abstrakte Form (soll der Mensch sterben?) und keine metaphorische Form (zum Beispiel: leben die Rosen nur einen Morgen lang?): Er befragt sich selbst, in einem Monodram, das konkret bezogen wird auf die Erinnerung, die erste Liebe, das eigene Herz, eine ersehnte Hand - das heißt, in Anlehnung an einige Elemente individuell gelebten Daseins. Die Abspaltung des ich zu einem Du ereignet sich ohne Verlust an allgemeinem Wert im Innern des Bewußtseins der Person.

Die beklemmende Erfahrung der Zeit oder des Sterblichseins ist nicht nur das Thema dieser Verse, sondern die Haltung, die sie entstehen läßt und prägt. Einige Bilder stammen aus der Traumwelt: der weiße Schatten, die Stimme, die zum Herzen dringt, die Hand, die man im Traum festzuhalten wünschte. Und die Sprache befleißigt sich einer reinen und schmucklosen Transparenz, einer strengen Genauigkeit: «Ambosse» des Willens, «Schmelztiegel» des Geistes, der aufs neue die Welt erschafft; und dieser «Staub» und dieser «Wind» -abgenutzte Metaphern, die im Kontrast zu den Ambossen und Schmelztiegeln einen neuen, zutiefst erfahrenen Rhythmus gewinnen: langsames Vergehen und tiefe Verzweiflung.

Ähnlich wie Coleridge glaubte Machado an die einigende Kraft der Phantasie und an ihr Vermögen zur einheitlichen Gestaltung der Erfahrung, aber nicht an ihre Fähigkeit zur Bildkombination: Bilder und Metaphern sind nur gerechtfertigt, wenn die einzigen und richtigen Namen und Begriffe fehlen, die der Ausdruck des intuitiv Erfahrenen erfordert: von daher erklärt sich seine wiederholt geäußerte Abneigung gegen das Barock und das zeitgenössische Neobarock des Surrealismus.

Verschieden davon verlief die Entwicklung des anderen großen Dichters dieser Zeit. Juan Ramón Jiménez. war der beste Schüler Rubén Daríos und des französischen Symbolismus, aber auch der Lehrmeister der großen «modernen» spanischen Lyriker Guillén, Lorca, Alberti, Salinas und Cernuda. Bis 1915 unterscheidet sich sein Werk, obwohl es zwischen der Schlichtheit von Liedern und elegischen Romanzen (Arias tristes - Traurige Lieder, 1903; Baladas de primavera - Frühlingsballaden, 1910) und einer üppigen impressionistischen Vielfalt [Poemas mágicos y dolientes - Magische und trübsinnige Dichtungen, 1911; Laberinto - Labyrinth, 1913) oszilliert, im allgemeinen durch die Vorherrschaft einer melancholischen Stimmung, die sich in unbestimmt bleibenden Strukturen und einer betont musikalischen Sprache mit Vorliebe der pflanzlichen Natur zuwendet. Von 1915 ab zeigt sich ein Wandel: Das Gefühl wird zu Intelligenz; die Landschaft zur elementaren Natur; die Unbestimmtheit zu einem Streben nach Genauigkeit und die sinnliche Musikalität zum inneren Rhythmus des Gedankens. Zu dieser letzten Epoche gehören Bücher wie Diario de un poeta recién casado (Tagebuch eines Jungverheirateten Dichters, 1917), Piedra y cielo (Stein und Himmel, 1919), La estación total (Die totale Jahreszeit, 1946) und Animal de fondo (Tier vom Grund, 1949). Doch auch innerhalb dieser «nackten» Poesie, die eine Annäherung an die «moderne» Lyrik im Sinne Hugo Friedrichs bezeichnen würde, behalten einige Prämissen des Modernismus ihre Wirksamkeit: die Farbigkeit und Musikalität, der absolute Glaube an die Schönheit und die Überzeugung von der vergöttlichenden Funktion des Dichters.

In Ramón del Valle-Inclán besaß die modernistische Prosa ihren fähigsten Vertreter, den Künstler, der am besten die «uranfängliche Erschütterung» durch das Wort zu fühlen und fühlbar zu machen wußte. Das für diesen guten Dichter, merkwürdigen Romancier und revolutionären Dramatiker Kennzeichnende ist jedoch sein Wille, die Technik der Erweckung von Eindrücken und Synästhesien ständig zu vervollkommnen, wobei er seine Werke mit einer anspruchsvollen Kohärenz von Themen und Motiven und mit Symbolen und Mythen ausstattete, die aus der Tiefe des Notwendigen kamen. Bei diesem Prozeß der Verwesentlichung des Zufälligen geht Valle-Inclán vom Impressionismus seiner ersten Romane (Sonatas - Sonaten; Flor de santidad) über zum Expressionismus seiner dramatischen «esperpentos» und seiner letzten Romane (Tirano Banderas, 1926; La corte de los milagros - Der Wunderhof, 1927); dazwischen liegt eine Reihe von symbolistischen Versuchen auf dem Gebiet des Romans, des Dramas und der Lyrik, deren theoretische Grundlagen zusammengefaßt sind in La lámpara maravillosa (Die wunderbare Lampe, 1916), einem Brevier seines Denkens, das sich auf fünf Begriffe gründet: Ewigkeit, Musik, Liebe, Ruhe und Licht. Seine -stets idealistische- Auffassung von Kunst bestimmt sich durch Subjektivität, Abstraktion, mythische Anspielungen und schöpferisches Erinnern. Es ist eine Kunst, die die zeitlich-räumlichen Grenzen zu annullieren beansprucht, die den Kreis und nicht die Gerade sucht, den Nachdruck und nicht den Umfang; eine mehr universale als spanische, eine expressive und nicht psychologische Kunst, deren Sprache nicht instrumental, sondern generativ ist, Ziel in sich selbst.




Vernunft und Lebenskraft

«Modernismo» und «Noventa y Ocho» werden im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts durch eine Erneuerungsbewegung abgelöst, die von einer Gruppe jüngerer Schriftsteller getragen wird, unter denen sich einige bereits anerkannte befinden. Juan Ramón Jiménez, Gabriel Miró, Ramón Pérez de Ayala, José Ortega y Gasset -sie alle gehören zum neuen Aufgebot, hatten schon frühzeitig zu veröffentlichen begonnen, aber ihr Werk gewinnt erst nach 1910 Konsistenz und richtungsweisende Bedeutung.

Das geschichtliche Ereignis, das sich diesen Schriftstellern einprägt, ist nicht das nationale Desaster von 1898, sondern das internationale von 1914 bis 1918 in all seiner Bedeutung: eine Krise Europas, die tief ins spanische Leben eingriff und die Spanier in Parteigänger der Deutschen und der Alliierten teilte; ein Wiederaufleben der Lehre des Vitalismus und einer Revision der Werte «im Lichte des Kriegsgeschehens»; ein Aufbrechen der neuen Ästhetik der Avantgarde; eine Spannung zwischen der Mehrheit (dem Proletariat, den Massen) und der «Elite»; das Anliegen, die «westliche Dekadenz» zu überwinden, zusammen mit dem Versuch, an den Nationalitäten festzuhalten.

Obwohl Spanien während des Ersten Weltkriegs offiziell die Neutralität wahrte, hatte es doch unter den Auswirkungen der gesellschaftlichen und politischen Krise zu leiden (Aufflackern des katalanischen Separatismus, Proteste der Militärs, Generalstreik, Anarchosyndikalismus, ständige Regierungswechsel), bis im Jahre 1923 die Diktatur des Generals Primo de Rivera, angeblich, um den Partikularinteressen Einhalt zu gebieten, ein vortotalitäres Regime etablierte, dem später die Monarchie erliegen sollte. Es ist jedoch nicht dieser Komplex innenpolitischer Umstände, sondern der Krieg selbst, der das stärkste Gewicht in der geistigen Formung von Autoren wie den oben erwähnten gewinnt und sie mit wacherer Aufmerksamkeit am Geschick der Welt teilnehmen läßt, sie von ihren unmittelbaren Vorgängern und deren grüblerischer Versenkung ins Wesen des Kastilischen abrückt. Abrückt, aber nicht völlig trennt: Denn auch bei Ortega, Pérez de Ayala und anderen wirken -wie bei ihren Vorgängern- der Wille, das Problem Spanien auszudeuten, und die Neigung zur kritischen Innenschau.

In Briefen, die Ortega und Unamuno im Jahre 1904 wechselten, gab der erstere zu verstehen, daß ihm Unamunos Generation übermäßig individualistisch und gewalttätig scheine und daß er, Ortega, sich eine lernbegierige, ordnungsliebende, intellektuelle Jugend wünsche, welche die ein wenig barbarische Willkür genialischer Selbstunterrichtung abstreifen und sich in eine systematische, durchreflektierte, nutzbringende Arbeit stürzen sollte17. In Wahrheit wollten die neuen Schriftsteller, statt sich auf Ideale zu berufen, die über der Vernunft standen oder dieser fremd waren (wie Glaube, Aktion, Sensibilität, Wille), der Vernunft und dem Leben ihre jeweiligen Rechte einräumen. Sie waren weder Ästheten noch Moralisten, noch wollten sie es sein; sie waren Essayisten, die das Panorama des Lebens und der Kultur durchdachten und glossierten; oder Erzähler und Dichter mit einer Vorliebe für Ideen, Symbole und Mythen; oder Menschen, die mit allem ihr Spiel trieben.

In der ersten Phase der neuen Entwicklung tritt das rationale Element hervor und wirkt mäßigend auf den Irrationalismus der «98er» und auf die modernistische Überempfindlichkeit. In der zweiten Phase gewinnt als Denkanlaß und als künstlerischer Anstoß der Vitalismus das Übergewicht.

In jungen Jahren leidenschaftlicher Nietzsche-Leser, später jedoch herangebildet im Idealismus Hermann Cohens, verrät José Ortega y Gasset in Meditaciones del Quijote (Meditationen über Don Quijote, 1914) sein Interesse an begrifflichen Konstruktionen. Diese Neigung verbindet ihn etwa zur selben Zeit mit dem Valle-Inclán der Lámpara maravillosa und mit Juan Ramón Jiménez, der damals sich einer von Verstandeseinsicht, Elementarkraft, Präzision und geistigem Rhythmus bestimmten Dichtung zuzuwenden begann. Ein anderer Denker, Eugenio d'Ors, der später in Spanien eine ähnliche Verbreitung wie Ortega finden sollte, lehrte in seinem Buch Die Philosophie des Menschen, der arbeitet und spielt (1914) einen neuen Intellektualismus, der die Vernunft (das Gute) der Natur (dem Bösen) entgegenstellt. Sowohl in seinen Werken mit größerem systematischem Anspruch wie in seinem dispersiven Glosario, in dem die anekdotische Alltäglichkeit zur Kategorie erhoben wird, bleibt D'Ors später immer diesem antiasketischen, antiromantischen (aber nicht antivitalistischen) Intellektualismus verhaftet. Ortega hingegen durchlief verschiedene Stadien; er war ein von Max Scheler inspirierter Perspektivist, er war Vitalist unter der Einwirkung von Spengler und dem erneuerten Einfluß Nietzsches, und er war Existentialist nach der Lektüre Heideggers. Beide Denker aber blieben immer ihrer selbstgestellten Aufgabe treu: dem Versuch einer Versöhnung von Vernunft und Leben, wobei beide tatsächlich zu einer Koordination gelangten, nur daß für D'Ors der höhere Begriff die Vernunft war, für Ortega das Leben.

Auf einer anderen, nicht philosophischen, sondern rein literarischen Ebene behandeln die Romanautoren dieser Generation, Gabriel Miró und Pérez de Ayala, eine ähnliche Problematik. Gabriel Miró schließt in seinen besten Romanen (La novela de mi amigo - Der Roman meines Freundes, 1908; Nuestro padre San Daniel, 1921) und in seinen Szenen aus dem Leben des mittelmeerischen Spanien (El libro de Sigüenza - Sigüenza-Buch, 1917) an die impressionistische Sensibilität an, und dies sowohl im Hinblick auf die bevorzugten Motive (Willensschwäche, christliche Entmutigung, Enge der provinziellen Sitten, Einsamkeit des Intellektuellen oder Künstlers) als auch im Hinblick auf die gewählten Formen von Aufbau und Sprache (Berichte mit sehr schwach entwickelter Fabel, liebevoll ausführliche Landschaftsschilderungen, lose aneinandergereihte Szenen, Häufung von erlesenen Empfindungen, prunkvolles Vokabular). Und doch sucht Miró bei allem, was er erzählt und beschreibt, ein symbolisches Substrat, ein für alle und immer gültiges Sein.

Ramón Pérez de Ayala wiederum zeigt sich in der scharfen Kritik seiner ersten Romane eng mit der Ethik des «Noventa y Ocho» verbunden (er möchte Spanien zur unmittelbaren Wahrnehmung der sinnlichen Werte erziehen, um es zu Authentizität, Toleranz und Liberalismus zu führen); doch dann gelangt er über diese Ziele hinaus und erreicht in Essays von höchster Luzidität und in Romanen mit allgemeinerer geistiger Zielsetzung eine Sphäre des Schöpferrums, in der das, worauf es ankommt, die Ideen, Mythen, Archetypen sind: Belarmino y Apolonio, 1921; Tigre Juan, 1924.

In den letzten Kriegs- und den ersten Nachkriegsjahren tritt die oben angedeutete zweite Phase der Entwicklung ein: Es kommt zur Vorherrschaft vitalistischer Vorstellungen. Ortega widmet dem Problem der Lebenskraft neues Nachdenken in vielen Essays seines Espectador (Der Betrachter, 1916/1928) und in El tema de nuestro tiempo (Das Thema unserer Zeit, 1923). Dieses Thema lautet: Die reine Vernunft muß zurücktreten hinter die Rechte des Lebens, auf den Gipfel der Hierarchie der Werte ist ein neuer Wert zu setzen: die Lebenskraft. Kurz zuvor war in Spanien wie in der ganzen Welt die zerstörerische Wut und neue Kreativität des Avantgardismus zum Durchbruch gekommen, dessen lärmendster und dürftigster Ausdruck die (mit «Dada» verwandte) «Ultra»-Bewegung war. Die früheste und folgerichtigste Manifestation des literarischen Avantgardismus in Spanien ist an Ramón Gómez de la Serna gebunden, den Schöpfer der «greguería», eines metaphorischen Atoms, das verborgene Aspekte in den Dingen enthüllen möchte, mit überraschenden Wortverknüpfungen operiert und fast immer humoristische Absichten verfolgt. Mit diesen «greguerías» -Bildern einer als Chaos wahrgenommenen Welt- füllte der Autor ganze Bände; er schrieb Essays und Romane, die wiederum nichts anderes sind als Schwärme von «greguerías», entstanden aus einem oder aus vielen Anlässen: Greguerías, 1917, El doctor inverosímil (Der unwahrscheinliche Doktor, 1921), El alba y otras cosas (Die Morgendämmerung und anderes, 1923).

Zum revolutionärsten spanischen Schriftsteller wurde Ramón del Valle-Inclán, der ein neues dramatisches Genus schuf: den «esperpento», eine Art grotesker Farce, welche die verkleinernde Perspektive zu einer systematischen Verformung der Archetypen benutzt. Auf diese Weise entstehen: die Karikatur eines Künstlers, der unfähig ist, einen Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit zu leisten (Luces de bohemia - Lichter der Bohème, 1924), die Karikatur des Donjuanismus (Las galas del difunto - Der Sonntagsstaat des Toten, 1930), des ehelichen Ehrbegriffs (Los cuernos de don Friolera - Die Hörner des Don Friolera, 1925) und der kriminellen Günstlingswirtschaft in absoluten Monarchien und Diktaturen (La hija del capitán - Die Hauptmannstochter, 1927). Schließlich dringt der Stil des «esperpento» auch in den Roman ein und prägt Tirano Banderas und La corte de los milagros (Der Hof der Wunder).

Bevor er zum «esperpento» fand, hatte Valle-Inclán in seinen Comedias bárbaras (Ungeheuerliche Komödien, 1907/1908) und in Divinas palabras (Gottes Wort) den Typus einer Tragikomödie von reichem Mythengehalt geschaffen. Seine Kriegserfahrung als Beobachter an der französischen Front beschrieb er in dem Buch La media noche (Mitternacht, 1917). Die folgende Stelle mag eine Vorstellung von der Höhe vermitteln, die die spanische Prosa gegen Ende unserer Berichtszeit erreicht hatte:

«Und der Mond zieht durch hellbestirnte Himmel, durch azure Himmel, durch stürmische Himmel: über den zweihundert Meilen sumpfiger Gräben öffnen die Raketen ihre Rosen, zittert das Licht der Scheinwerfer, und über den dunklen Himmel ziehen die Flugzeuge mit ihrer Last von Sprengstoffen, um zu zerstören, um in Brand zu setzen, um zu töten... Im Rumpf sitzen lustige Offiziere, berauscht vom Taumel des Flugerlebnisses, wie die Helden der antiken Tragödie vom erotischen Taumel berauscht waren. Gehüllt in Felle, mit großen runden Brillen und runden Lederhelmen, erinnern ihre Formen an Embryos und lassen dunkel an Ungeheuer der Wissenschaft denken. Sie fliegen gegen den Wind und mit dem Wind, die Sterne zeigen ihnen ihren Weg. Die einen verlieren sich im Flug durch Wolkenfelder, andere schweben über dem Rauch und den Flammen der Brände, und wieder andere ziehen in gestaffelter Ordnung vor dem Mond dahin. Der da droben gegen den peitschenden Regen und den Wind vom Meer ankämpft, kommt aus einem englischen Flughafen in der Picardie. Und die, die jetzt zurückkehren und leise landen, sind Franzosen: sie waren bei Einbruch der Nacht gestartet, sie waren sieben und sind jetzt nur noch fünf: hinter ihnen bleibt brennend ein Zug mit deutschen Soldaten zurück. Die Piloten schütteln ihre Glieder und entfernen sich steifbeinig über das Gras, während ein paar Soldaten im Schein von Laternen die Flugzeuge unter die Schuppen schieben und mit Wasserkübeln die heißen Motoren kühlen. Es ist ein Flugplatz hinter der Kampflinie auf ebenem Wiesengelände. Leichte Zelte, große Schuppen und offene Schutzdächer sind kreisförmig auf dem Grase angeordnet. Sie haben die Farbe der Nacht und zerfließen in der Schwärze der Nacht, und nur der Mond läßt ihre Silhouetten hervortreten, wenn er übet helle Sternenhimmel zieht»18.



Noch die Übersetzung könnte etwas von der Sensibilität und Sensitivität, von der rhythmischen Ausgewogenheit dieser Prosakunst ahnen lassen. Unübersehbar ist freilich auch, daß Valle-Inclán den Krieg -im Gegensatz zu Barbusse und den englischen War Poets19- als ästhetisches Abenteuer, also «dannunzianisch» erlebt und darstellt. Von einigen wenigen Vorleistungen abgesehen, erfolgt bei diesem Autor wie in der spanischen Literatur überhaupt die Radikalisierung der Welt -und Kunstauffassung nicht mehr in unserer Berichtszeit, sondern erst an der Wende zu den zwanziger Jahren.






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